Beat it!


Der Dunst der Zeit hat die Erinnerung mittlerweile aufgeweicht, der Nebel sie verschleiert. Die Vergangenheit ist mir fremd, obwohl ich das Ich von damals, das ich so verachtete, heute noch in mir trage und endlich zu schätzen weiß.

Ich war gerade 15 geworden, als meine Eltern beschlossen, das bayrische Provinzkaff, in dem ich doch recht glücklich und behütet aufwuchs, zu verlassen und in eine Stadt zu ziehen. Keine große Stadt oder gar eine Großstadt, aber doch so groß, daß sie nicht in einer halben Stunde zu Fuß durchquert werden konnte. Selbstverständlich wäre auch niemand auf diese Idee gekommen. Außer mir. Damals war mir das Gehen das liebste Fortbewegungsmittel.

Das Leben als Teenager ist schwer genug, es ist noch schwerer, wenn man die Schule wechseln muss. Trotzdem rebellierte ich nicht. Der Verlust meiner damaligen Freunde bekümmerte mich nicht allzu sehr. Ich konnte mich nicht gut an andere Menschen binden und kann das heute noch sehr schwer. Also blickte ich neugierig in die Zukunft und wartete einfach, was da auf mich zukommen würde. Natürlich war mir bewußt, daß es nicht einfach werden würde. Ich fühlte mich belanglos und erwartete, so behandelt zu werden.

Besondere Aufmerksamkeit erregte ich mit meiner stillen Art nicht und in gewisser Weise war ich dankbar dafür. Aufmerksamkeit bedeutet auch Nähe und allzu nahe sollte mir keiner kommen.

Eines Tages sprach mich ein Mädchen an. Melanie hieß sie (nicht. Aber der wahre Name tut auch nichts zur Sache). Sie war klapprig, hatte schlechte Haut und eine geradezu bergeracige Nase, die sie zu allem Unglück auch nocht desöfteren mit einer großen, weit ins Gesicht zurückgeschobenen Brille betonte. Ihr Interesse an mir schien aus einer traurigen Einsamkeit geboren zu sein. Melanie war nicht sonderlich beliebt und drückte sich eher am Rand der Klassengemeinschaft entlang.

Wir hatten kaum gemeinsame Interessen. Wie viele Außenseiter liebte sie Rollenspiele, in die sie sich gefahrlos zurückziehen konnte. Ich selbst hatte keine nennenswerten Neigungen. Zeichnen und Ballet waren meine Freizeitbeschäftigungen, bei denen ich allerdings niemals großartige Erfolge verzeichnen konnte.

Sie lud mich zu sich nach Hause ein, was ich mehrmals glücklicherweise ausschlagen konnte, bis es mir zu unhöflich erschien und ich nachgab. Ich konnte es nie leiden, bei fremden Menschen zu sein oder gar zu übernachten. In dieser Familie fühlte ich mich besonders unwohl. Ich weiß nicht mehr genau, woran es lag. Vielleicht am merkwürdigen Verhalten des Vaters oder an dem der Mutter. Er war hochgewachsen, schlank bis auf einen Kugelbauch, kahlköpfig und er fletschte beständig seine großen Zähne. Sie war die typische Wohlstandsmutter, gut gekleidet, tadellose Frisur, traurige Augen.

Beim Abendessen schlossen wir mit unseren Händen einen Kreis und wünschten uns eine gesegnete Mahlzeit. Danach durfte keiner mehr für die Dauer der Nahrungsaufnahme sprechen. Ich war irritiert. Zuhause war uns das gemeinsame Essen genau deshalb heilig, weil wir dabei alle miteinander sprechen, jammern, schimpfen, zanken und diskutieren konnten.

Nach dem Essen zogen Melanie und ich uns zurück. Wir spielten eines ihrer leidigen Rollenspiele, hörten Musik und ich versuchte, mich sozial angemessen zu verhalten, indem ich ihre Kleidung und ihren Schmuck bewunderte. Schließlich vertraute sie mir an, dass sie in den Nachbarsjungen verknallt sei. Und sie wüsste eine günstige Gelegenheit, um ihm ihre Zuneigung zu gestehen. Ich kannte den Nachbarsjungen vom Sehen und wusste, dass jegliches Unterfangen völlig erfolglos enden würde. Es erschien mir allerdings nicht richtig, ihr das zu sagen.

Auf eine Party wollte sie. Aber nicht einfach so. Derjenige, der die Party veranstalte, habe sie gebeten, für einen Showact zu sorgen. Etwas, was die Stimmung ein wenig anheizen würde. Wie wäre es denn mit einer coolen, sexy Tanzeinlage?

Ich wusste, dass sie mich fragen würde. Ich wusste auch, dass ich nur deshalb eingeladen wurde und dass ich nur deshalb in dem rosa Mädchenzimmer in meinem lächerlichen Weihnachtsmannpyjama saß. Aber ich konnte nicht nein sagen. Egal aus welchem Grund, immerhin schenkte sie mir Aufmerksamkeit. Mir, dem merkwürdigen Landei, das weder moderne Klamotten trug, keine schicke Frisur hatte und die falsche Musik hörte.

Letzteres wollte Melanie auch gleich ändern. Der Song zum Tanz sollte „Beat it“ werden. Ich war damals zu jung, um den Thriller-Hype mitbekommen zu haben und vermutlich hätte er mich auch nicht interessiert. Mir meiner Defizite bewußt und dem Druck folgend, gab ich weder das noch die Tatsache, dass ich „Beat it“ noch nie gehört hatte, gegenüber Melanie zu.

Man stelle sich zwei linkische Teenager vor, die eine davon mit Rhythmusgefühl gesegnet, die andere nicht. Die eine introviertiert und allein bei dem Gedanken, sich mit lächerlichen Bewegungen vor anderen Teenagern zu blamieren, mit schlaflosen Nächten bedacht, die andere getrieben von ihrem Wunsch, mit einem kindischen Tanz das Herz ihres Angebetenen zu erorbern.

Ich spielte im Geiste verschiedene Horrorszenarien durch. Ich übelegte verzweifelt, wie ich der sicheren Blamage entgehen könnte. Erfolglos.

Melanie schlug vor, wir sollten uns ähnlich wie Michael Jackson kleiden und schminken. Sie hielt mir das Cover von „Bad“ vor’s Gesicht und wartete nicht meine Reaktion ab. Wir trafen uns also ein paar Mal und übten peinliche Schritte und Bewegungen, die Melanie für sexy hielt. Ich sah eine Katastrophe voraus.

Schließlich war der Abend meines gesellschaftlichen Untergangs gekommen.

Melanie hatte sich von einer Freundin eine schwarze Motorradjacke geliehen, die ich tragen sollte. Sie bevorzugte einen pinkfarbenen Bustier mit einem Netzshirt darüber, dazu genietete Lederarmbänder und schwarze Glanzleggins. Künstliche Krokolederstiefeltten komplettierten das peinliche Outfit. In die Haare sprühten wir dosenweise Haarspray und gelten einzelne Strähnen. Schwarzer Kajalstrich umrandete dramatisch unsere kindlichen Augen.

Hätte es damals schon Halloween in Deutschland gegeben, wir hätten die idealen Kostüme dazu getragen.

Melanies unerschütterlicher Optimismus übertrug sich nicht auf mich. Wort- und hilflos ertrug ich die Autofahrt und ihren zähnefletschenden Vater, der uns in seinem biederen Mittelklassewagen zum Ort der Blamage fuhr. Hätte uns eine Polizeistreife angehalten, wäre er vermutlich in Erklärungsnot geraten.

Ich war bis zu diesem Zeitpunkt nur auf harmlosen Kinderpartys gewesen, auf denen man gickelnd in der Mädchenecke saß und zu den sich cool und lässig gebenden pickeligen Jungs rüberschielte. Diese Party veranstalte jedoch ein Junge aus der Oberstufe. Ich erwartete also selbstverständlich eine Orgie. Kaum Lichtquellen, Alkoholdunst, Zigarettenqualm, Drogen, fummelnde Pärchen und ein Lärmpegel, der es einem unmöglich machte, über eine Distanz von 20 cm hinaus zu kommunizieren.

Auf unser Klingeln hin öffnete uns eine weitere Wohlstandsmutter, die vermutlich ihre Psychologinnenkarriere den Kindern zuliebe aufgegeben hatte und jetzt, im fortgeschrittenen Alter, die Leere ihres Lebens mit Alkohol und Pillen füllte. Jedenfalls hielt sie ein Glas Rotwein in der Hand. Sie schickte uns nach oben. In meiner Fantasie fanden Orgien in düsteren Kellergewölben statt, weniger unter dem Dach, aber ich gestand mir ein, dass ich nicht wirklich Ahnung, geschweige denn Erfahrung auf dem Gebiet hatte.

Wir stiefelten in unseren hohen Schuhen die steile Treppe hinauf. Eine Wolke Haarspray folgte uns. Es war so beängstigend ruhig. Die Tür war geschlossen. Melanie holte ihren Klappspiegel aus ihrer Handtasche und überprüfte ihr Aussehen. Ich wäre am liebsten weggelaufen, zog aber stattdessen den Bund meiner Leggins nach oben und den breiten Gürtel auf Taillenhöhe. Wenn schon sterben, dann mit erhobenen Haupt, dachte ich.

Zaghaft klopfte Melanie an die Tür. Es dauerte eine Weile, bis sie geöffnet wurde. Der Raum war wider Erwarten sehr groß. Die Dachschrägen waren mit Kiefernholz verkleidet und mit Kunst-Postern beklebt. Ein Klavier stand in der Ecke.

Das helle Licht brannte in meinen Augen, der Kajalstrich drohte zu verschwimmen. Unsere Absätze machten auf dem Dielenboden klackernde Geräusche. Fünf Augenpaare waren auf uns gerichtet. Zehn Augenbrauen hoben sich. Leise Jazzmusik dudelte von kleinen Zimmerboxen in den Raum. Zwei Mädchen, die eine in Rüschenbluse, saßen im Schneidersitz auf dem Boden. Zwischen ihnen lag das Buch „Die Blechtrommel“.

Jürgen, gekleidet in einen beigefarbenen Pullunder, begrüßte uns aufgeregt und freudig. „Schön, dass ihr kommen konntet. Wollt ihr eine Cola?“

Melanie sah sich nach Thomas um, dem Jungen, den sie anschmachtete. Vielleicht war er noch nicht da. Ich konnte den Gedanken in ihrem Gesicht lesen. Dass er nicht mehr kommen würde, stand in meinem. Aber sie bemerkte es nicht. „Willst du nicht die Jacke ausziehen?“ fragte mich Jürgen. Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Darunter trug ich ein eigenhändig aufgeschlitztes T-Shirt.

Wir setzten uns auf eine braunbezogene Couch und tranken unsere Cola. Melanie mit ständigem Blick auf die Tür, ich verzweifelt versucht, niemanden anzusehen.

„Hey, ihr habt doch da was vorbereitet.“ Jürgen kam lächelnd auf uns zu. „Wie wär’s? Wäre doch jetzt an der Zeit?“

Melanie öffnete ihre Handtasche. Ich sah das „Thriller“-Album. Ich sah ihre Hand, die danach greifen wollte. Ich sah die Gäste um mich herum. Ich sah in Jürgens offenes, freundliches Gesicht.

Und dann sah ich in Melanies Gesicht. Sie erwiderte meinen Blick. Sie lächelte traurig und verzweifelt. Mit Entschlossenheit klappte sie ihre Handtasche zu. „Sowas blödes, ich muss die Platte zuhause liegen gelassen haben.“ Dazu stellte sie ihre Tasche auf den Boden, die augenblicklich eine verräterische, quadratische Form annahm.

Jürgen zuckte mit den Achseln. „Schade.“ lächelte er.

Ich sagte nichts.

Ich schlief auf der Couch und wurde von einem Nachbarn geweckt, der mit dem Song „Beat it“  die Straße beschallte. Vielleicht hat sich auch für ihn nur einen Augenblick lang der Nebel gelichtet und damit eine Verbindung zur Vergangenheit geschaffen. Der Tod eines Menschen ist dafür häufig genug der Auslöser. Und manchmal reichen ein paar Töne, die sich in die Träume drängen.

Vielleicht war es auch schlicht eine Hommage, vielleicht ist auch diese Geschichte eine Hommage. Weniger auf den Künstler, als vielmehr auf das eigene Leben.

Alles. Bloß kein Sex.


Ich bin krank und mir ist langweilig. Ich war einmal sehr lange krank und mir war sehr lange langweilig. Damals lag ich lethargisch im Bett und habe von morgens bis abends nur ferngesehen. Man darf mich seitdem als Spezialistin bzgl. billiger amerikanischer B-Comedy-Serien betrachten. (Und allem sonstigen, was es im Ferrnsehen so gab und gibt.)

Mag sein, daß diese schreckliche Zeit und Phase meines Lebens meine Birne weichegkocht und meine TV-Schmerzgrenze auf Erdwespenniveau gesenkt hat. In jedem Fall kann ich mit dem grandiosen Wissen glänzen, das bspw. eine anzügliche Szene aus der Serie „Die Nanny“ herausgeschnitten wurde, in der eine schönheitsoperierte Cher (eignewickelt in Mullbinden, also nicht die echte) an Fran Fines Fingern nuckelt und diese das entsprechend kommentiert. Ich weiß, dass  in dem Film „Ein Klassemädchen“ die gehbeinderte Hauptdarstellerin in der Ursprungsfassung den Rossignol-Chef trifft, bevor die Skimarke in eine andere umbenannt wurde. Usw.

Wissen also, das keiner braucht und das niemanden interessiert.

Man hofft übrigens beim Berieselnlassen von Alle unter einem Dach bis hin zu Eine himmlische Familie, das es sich um Realsatire handelt und nicht etwa um moralinsaure, mahnende Lebenslektionen, eingehüllt in pseudowitzige Episoden, schlimmstenfalls von streckenweise total unpassendem Konservenlachen beschallt. Mein Paradebeispiel dazu war bisher die Apfel-Birnen-Szene aus Bill-Cosby. Für Nichtserienjunkies: Apfel und Birne symbolisieren jungfräuliche Körper. Gerade über das Thema Sex in amerikanischen Comedy- oder Familienserien könnte man eine wunderbare wissenschaftliche Arbeit schreiben.

Was ich mir aber eben diesbezüglich angetan habe, lässt sich nur durch mindestens zehn Abende im Programmkino mit Vorführung unbekannter usbekischer Filmkunst neutralisieren. Alternativ durch eine Flasche warmen Wodka. Aber der verträgt sich so schlecht mit den Medikamenten.

Natürlich ging es um Sex. Außer in Pornos geht es überhaupt nie so oft um Sex wie in amerikanischen Serien. Nur der Blickwinkel ist real und übertragen etwas anders als in klassischen Fickfilmen.

Und hier die Story: Die 17-jährige jungfräuliche Tochter möchte mit ihrem hyperbibeltreuen Freund zum ersten Mal Sex haben. Aus dem Zuschauer unerfindlichen Gründen teilen sie das gemeinsam den Eltern der Tochter mit, die daraufhin komplett den Verstand verlieren. Sie schlagen verbal und körperlich auf das Teenagerpaar ein, erzählen dem Jungen, er würde beim ersten Fick explodieren, dem Mädchen, was für schreckliche Geschlechtskrankheiten es gibt, schrecken auch vor Drogen und Freiheitsentzug nicht zurück. Untermalt immer und immer wieder von mantrischen Lachsalven, damit man nicht etwa auf die Idee kommt, man sähe gerade ein Psychodrama.

Als Zuschauer kann man aber nicht wegschalten. Das ist der Warze-im-Gesicht-Effekt. Und dann wartet man. Man wartet auf die Rebellion, das Ausrasten der Tochter, die ihren Eltern den Kopf wäscht, das Bild und die Welt wieder gerade rückt. Man wartet auf die Darstellung von Enttäuschung und Verletztheit begründet auf den Vertrauensbruch und das kindische Verhalten der Eltern. Natürlich wartet man vergeblich. Nichts ist in amerikanischen Serien so heilig wie die Jungfräulichkeit. Selbstverständlich nur die der Mädchen. Dem Sohn in der Serie hat der Vater noch ein paar Folgen früher Kondome in die Hand gedrückt und ihm viel Spaß gewünscht.

Ich jedenfalls streiche das Bill-Cosby-Apfel-und-Birnen-Gespräch von Platz 1. Es geht immer noch schlimmer. Mal sehen, was in den Programmkinos so läuft.

Maos Anzug im Kopf


Als Teenager, in der Schule, da ist es ja so wichtig, welcher Gruppierung man sich anschließt, welche Klamotten man trägt, wen man gut oder schlecht findet und zu welcher Clique man gehört.

Zu meiner Zeit und auf der elitären Schule, die ich besuchte (übrigens Geld-, nicht zwangsläufig Geisteselite), da trug man selbstverständlich Edellabels, ließ sich die Haare vom teuersten Friseur der Stadt ondulieren und betrachtete es als Rebellion und cooles Understatement, ein H+M T-Shirt unter dem teuren Hosenanzug zu tragen. H+M war damals der Kaufhof der Armen und Geschmacklosen. Letzteres ist er ja immer noch. Wer stilunsicher ist, der rennt zu IKEA und H+M, lässt sich alles vorkauen, um ja nicht den Hauch von Individualität entwickeln und eigenen, auch schlechten Geschmack haben zu müssen.

Die Sache ist doch die. Propagiert wird überall die Individualität. Man möchte sich abheben, besser fühlen und besser aussehen als der sogenannte Mainstream. In Wahrheit rennen die meisten aber doch in Maos Anzügen rum. Und viele haben die auch über’s Hirn gestülpt. Wer nicht zur Gruppe passt, wird ausgegrenzt.  Du bist Emo? Geh weg, Emo ist scheiße. Du trägst die Hose ÜBER dem Arsch? OMG, was bist du denn für einer?

Rudelbildung, wo man hinsieht. Kürzlich habe ich einem 12-jährigem Mädchen erzählt, das ändere sich mit dem Alter. Der Druck, einer Gruppe anzugehören, verschwindet mit der Zeit und ebenso die Anerkennung oder Häme. Als ich tags darauf zur Arbeit ging und all die Schlipsträger, die Carry-Bradshaw-Verschnitte mit ihrem InTouch-Outfit und die Bewußt-Geeks sah, da wurde mir klar: Ich habe gelogen.

Hat sich was mit der Altersweisheit…